Pißbüdels Gang
Pißbüdels Gang, so wird von den Alteingesessenen die schmale, holprig gepflasterte Gasse genannt, die gegenüber vom "Kanzler" von der Langen Straße abgeht, Pißbüdels Gang deshalb, weil in alten Zeiten die Honoratioren der Stadt in ihrer "unschätzbaren würdevollen Fadheit und leeren Ernsthaftigkeit" nach ihren Zechereien in diesem Lokal dort im Schutz der Dunkelheit das Wasser abschlugen. Am Ende erweitert sich der Gang zu einem kleinen Platz, bis heute katzenkopfgepflastert. Dort setzte ich mich fast jeden Nachmittag vor die ausgetretenen Steinstufen, die hinunter in die "Kajüte" führten, legte einen Hut, einen dunkelbraunen Borsalino, vor mich hin und bettelte die Leute an, nicht um Geld, nein, das brauchte ich nicht, die Arbeitslosenhilfe und hin und wieder ein kleiner Betrug hielten mich über Wasser, ich sammelte Kronkorken. Denn Kronkorken, wenn man sie mit Sidol und einem weichen Tuch schön blank poliert, spiegeln die Seelen der Trinker.Hatte ich so zwei bis drei Dutzend beisammen, schüttete ich sie in die Taschen meiner Bundeswehrparka, setzte den Borsalino auf und ging die vier Stufen hinunter, Wesersandstein, in die dritte hatte jemand vor Jahrzehnten – oder vorhin? – rechts unten ein Hakenkreuz geritzt. Von der Eingangstür blätterte der grüne Billiglack, sie quietschte und schloß nicht richtig, so daß es fortwährend durch den Schankraum zog. Die Bedienung, durch die Bank klein und pummelig – vor allem in Bäckereien und Fleischereien kann man beobachten, daß das weibliche Personal vorzugsweise nach dem Beuteschema des Chefs zusammengestellt wird –, stets schwarz gekleidet, brachte kleine gelbe Zettel, einen Bleistift und Dartpfeile. Die Bestellung schrieb man auf einen der Zettel, befestigte den an einem Pfeil und warf ihn nach der Bedienung. Nur, wenn man eine der beiden Zielscheiben in Grell-Orange traf, vielleicht sechs Zentimeter im Durchmesser und recht dick gepolstert, die über den kurzen Röcken an der rechten und der linken Pobacke angebracht waren, dann bekam man, was man bestellt hatte, andernfalls mußte man fünf Mark Schmerzensgeld bezahlen und auf der Stelle (und durstig & hungrig) verschwinden.
Treffer auf die gepolsterten Scheiben quittierten die Kellnerinnen mit affektierten Jauchzern, Fehlwürfe mit spitzen Schmerzensschreien und Flüchen. Ich traf nur selten, und wenn, dann aus Versehen, und war deshalb draußen vor dem Eingang zwar geduldet, drinnen aber nicht gern gesehen. Jedesmal ließ man mich mit Freude von Ringo, damals noch kraftstrotzend und energisch zupackend, abkassieren und hinauswerfen.
Ich trank auch lieber zu Hause, am Abend Wodka Jarzebiak und Mineralwasser, das gab einen angenehm warmen Rausch ohne Kater am nächsten Morgen, am Küchentisch, weil der groß genug war, auch noch die Ausbeute an Kronkorken vor mir auszubreiten, nachdem ich sie in der Plastikschüssel mit einem milden Handspülmittel gereinigt hatte – Desinfektionsbäder hatte ich auch ausprobiert, aber die zerstörten den Seelenspiegel – und aufs Sorgfältigste zu polieren. Und je mehr die Kronkorken glänzten und spiegelten, desto schärfer traten die Konturen der Säuferseelen hervor, nicht meine eigene Seele, wie böse Zungen behaupteten, wirklich die derjenigen, die aus den Flaschen getrunken hatten, das dürfen Sie mir ruhig glauben: melancholisch heiter lächelnd die einen, zerrissen und verzweifelt weinend die anderen, in allen nur denkbaren Nuancen und Zwischentönen. Bei manchen Säufern, denen es schon den Verstand weggefressen hatte und in ein tiefschwarzes Loch verwandelt, begann sich allmählich auch schon die Seele zu verflüchtigen und war nur noch als konturloser dünner Nebel wahrnehmbar.
Meine Schätze bewahre ich immer noch im Seelenzimmer auf, in Regalen mit Schubladen aus russischer Birke, schön nach Kategorien geordnet und fein säuberlich etikettiert, die Schubladen, nicht die Kronkorken. Neue kommen kaum noch dazu. Das Haus mit der "Kajüte" wurde abgerissen, statt der Sandsteinstufen führt an dieser Stelle nun eine Betontreppe hinunter in die Tiefgarage, anderswo ist auch nur noch wenig Beute möglich, weil sich vor allem bei der Jugend die Bierdose immer mehr gegenüber der Pfandflasche durchsetzt.
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